"Der Kamin"   Von Johannes Dunanski aus seinem Büchlein "Gehäufte Schüssel"

In Ostpreußen, Masuren, in dem kleinen Grenzdorf Flammberg liegt das niedrige, aus Holz gefügte Bauernhaus. Der Kamin ragt weit aus dem Strohdach heraus und sieht aus wie eine Säule, um die das Gebäude herumgelegt ist. In unserer Phantasie war der Schornstein der Ort, wo der Storch die Kinder fallenläßt, und unten war eine große Türe. Wenn man hineinschaute, war es ein schwarzer Rachen, der einen wieder zurückwollte und mit der Luft anzog. Wir hatten große Angst davor. Von außen schaute – es war Vorschrift – eine große Leiter an diesem Ungetüm über das Dach heraus. Der Vater wollte deshalb keine Ziegen halten. Wenn ihm einer diesen Vorschlag machte, sagte er: "Nein, sie steigen einem aufs Dach. Auf der Leiter könnten sie es gut." "Ziegen wären auch nur Beamtenkühe", fügte er hinzu. Der Zaun legte sich um das Ganze wie ein Kranz, denn er war aus Ästen geflochten, und nur wir hatten einen solchen Zaun, an dem keine eisernen Nägel verwendet wurden. Die Ställe und die Scheune waren ebenfalls aus Holz. Und die Dächer waren aus Stroh und schon alt. Grünes Moos und einzelne Grasbüschel wuchsen darauf.

Wir treten ins Haus. Man muß sich sehr bücken, sonst stößt man sich. Ziegeln liegen auf dem Flur. Sie sind sauber gescheuert und mit weißem Sand bestreut, denn es ist gerade Sonntag. Vor uns die Tür, aus der wir alle herausgezogen worden sind. Rechts war das Brennholz untergebracht. Daneben die Tür in die Küche. Links ist die große Stube, in der sich alles abspielt. In der Mitte steht die alte Wiege. Neun Kinder hat sie ausgehalten und bei dem letzten quietsche sie schon arg. Aber Mutter sagte: "Vielleicht hält sie es durch."

Ich war der zweite. Eine Schwester war älter als ich, und zu meinem Kummer mußte ich lange warten, bis ich stärker war als sie. Rechts in der Ecke war das große Bett, in dem die Eltern schliefen. Links in dem Winkel ein breites Bett, wo wir Buben drin lagen. In der dritten Ecke, ein zum Zusammenschieben gezimmertes Bett. Das war für die Mädchen. Am Tag war es eine große Bank.

Es gab einen Ofen aus Ziegelsteinen, der alle paar Jahre neu gebaut werden mußte, weil er aus den Fugen ging. – Wichtig war eine Mühle, die in der letzten Ecke stand, Vater hatte sie gemacht. Der untere Stein war fest in ein Holzgestell eingebettet. Der obere war beweglich und hatte in der Mitte ein Loch, in das man beim Drehen mit der einen Hand das Korn hineingleiten ließ. Seitlich war ein Stock befestigt, mit dem man die Runden drehte. Zu zweit war er etwas leichter zu bewegen. Ein schönes, aus Kiefernwurzeln geflochtenes Gefäß stand unten und fing das grobe Mehl auf. Mutter kochte davon einen dicken Brei und übergoß ihn mit ausgelassenem Speck. Einen Becher Milch gab es dazu. Wenn gekochte Kartoffeln vom Mittagessen übriggeblieben waren, wurden sie zerdrückt, das grobe Mehl durchgesiebt, das feine mit den Kartoffeln vermengt und dünne Fladen auf der Herdplatte gebacken, die wir gern aufs Feld mitnahmen oder auch zur Schulpause.

Als Spielzeug machte mir der Vater einen Dreschflegel, und ich rannte schon mit drei Jahren auf den Hof und auf die Straße und drosch Sand oder Steine aus.

Mit fünf Jahren verliebte ich mich in ein Mädchen vom Nachbarn. Wenn man mich fragte: "Was gefällt dir denn an diesem Mädchen so sehr?" gab ich zur Antwort: "Die schönen Zöpfe und das schöne grüne Sonntagskleid." Das grüne Kleid ist mir noch heut in seiner Farbwirkung in Erinnerung.

Mein Vater war sehr stolz auf seinen Sohn. Er lebte nämlich fünfunddreißig Jahre in einer Ehe, die kinderlos blieb. Er erzählte uns später: "Ich betete Tag und Nacht, Er, der Schöpfer, möchte mir Kinder schenken." Die erste Frau starb. Vater war schon neunundfünfzig, als er unsere Mutter zur Frau nahm, die achtundzwanzig Jahre alt war. Dann kamen Kinder und Kinder und es riß nicht mehr ab.

Mutter hat uns alle in der großen Stube geboren. Bei einer Geburt wurden wir in den Stall nebenan ausquartiert, und durch die Wände hörten wir, wie die Mutter stöhnte. Dann gab es eine Stille, und plötzlich hörten wir ein völlig neues Stimmchen krähen. Später mißtrauten wir den Eltern, wenn die Rede auf den Storch kam. Aber die Großmutter, eine sehr resolute Frau, rundlich und feststehend auf den Beinen, unterstrich die Sage noch, wenn sie sagte: "Wenn ihr doch nicht so den Störchen nachschreien würdet, dann würde er uns vielleicht ab und zu verschonen!" Wir Buben riefen nämlich den Störchen nach: "Storch, Storch, Luder, bring uns einen Bruder!" – die Mädchen aber: "Storch, Storch, Bester, bring uns eine Schwester!" Wir gerieten dann oft in Streit miteinander, und wenn gar die Nachbarskinder mitschrien, gab es ein großes Durcheinander.

Ortelsburger Heimatbote 1975   S. 10-11

Opaleniecz – flammende Berge   H. St.

Das Grenzdorf Opaleniecz, zu deutsch "flammende Berge", erhielt seinen Namen Flammberg. Diese Übersetzung weist darauf hin, daß es sich hier um ein altes Köhlerdorf handelt, wo man Holz zu Bergen aufstapelte, um in Kokereiverfahren Holzkohle zu gewinnen, die man als Ersatz für die später verwendete Steinkohle wahrscheinlich zur Verhüttung des damals bei Hamerudau bestehenden Hammerwerks von Eisenerz verwendete. Eine andere Herkunft des Namens läßt sich kaum herleiten, zumal Flammberg nur Flachland aufwies, wogegen man bei Grabungen an verschiedenen Stellen deutliche Ablagerungen von Holzkohle nachweisen konnte.

Von Willenberg kommend, erreichte man zunächst zu beiden Seiten der Straße das "evangelische Dorf", anschließend, durch einen Bach, "Graben" genannt, getrennt, das sogenannte "katholische Dorf". Diese eigenartige Grenzziehung nach der Glaubensrichtung hin hatte in der Hauptsache traditionelle Hintergründe, die das harmonische Zusammenleben beider Religionsgemeinschaften in keiner Weise beeinträchtigte. Beide "Dörfer" hatten ihre eigenen Kirchen.

Die katholische Kirche stammt aus dem Anfang dieses Jahrhunderts und gehörte als Filialkirche zum Dekanat Masuren I. Sie umfaßte etwa 400 Seelen, einschließlich der Gläubigen aus den Ortschaften Wyseggen, Baranowen und Montwitz. Die Kirchengemeinde war erst vor dem Ersten Weltkrieg unter Pfarrer Hohenberg entstanden. Zu dieser Zeit ist auch die Kirche errichtet worden: ein verputzter Backsteinbau mit drei Altären. Den äußeren Schmuck bildete ein Dachreiter. Neben der Kirche stand ein hölzerner Glockenturm mit drei Glocken. Diese wurden im Ersten Weltkrieg für Kriegszwecke eingeschmolzen und nach dem Krieg durch drei Stahlglocken ersetzt. Wenn die jungen Burschen im Gasthaus Tomek Silvester feierten, dann kamen sie um zwölf Uhr zum Glockenläuten. Das geschah dann mit besonderem "Schwung". Das im Blockhausstil errichtete Pfarrhaus wurde im Ersten Weltkrieg von den Russen durch Feuer zerstört und nach dem Krieg im Villenstil wiederaufgebaut. Die geräumigen Wirtschaftsgebäude – Stall und Scheune – mit den Ziehbrunnen auf dem Hof gaben auch dem Pfarrgrundstück eine bäuerliche Note.

Das Pfarrland umfaßte 30 Morgen Ackerland und 30 Morgen Wald. Es handelte sich um Krüppelkiefern, die sich nur als Brennholz verwenden ließen. Das Pfarrland war bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges an Bernhard Schwitalski, anschließend an Konrad Sysk verpachtet. Sie waren gleichzeitig auch Küster und Totengräber. Der Friedhof lag in unmittelbarer Nähe der Kirche. Als Pachtzins für das Land hatten die jeweiligen Pächter eine Anzahl Fuhrwerke zu stellen, hauptsächlich Fahrten zur Stadt und zum Bahnhof nach Willenberg. Der Organist Bachor hatte auch einen Bläserchor ins Leben gerufen, der nicht nur die Gottesdienste und Fronleichnamsprozessionen musikalisch untermalte, sondern auch an weltlichen und familiären Feiern mitwirkte. In der Adventszeit brachte er allen Familien ein Ständchen, wobei den Bläsern wegen der Kälte oft so reichlich eingeschenkt wurde, daß sowohl der Gang als auch die Posaunentöne nicht mehr richtig harmonierten.

Opaleniecz gehörte ursprünglich zum evangelischen Kirchspiel Willenberg. Schon im 16. Jahrhundert ist eine Kirche im Dorf nachgewiesen. Im vorigen Jahrhundert wurde an alter Stelie eine neue Holzkirche erbaut, die aus unbekannten Gründen wieder "aufgehoben" wurde. Zu dieser Zeit gehörte das Dorf mit Baranowen und Montwitz zum Kirchspiel Neidenburg. Als dann am 3. September 1878 die neuerbaute Kirche eingeweiht werden konnte, wurden die Gemeinden Montwitz, Czenzel, Baranowen und Wyseggen dem neuen Kirchspiel Flammberg zugeteilt. Die Kirche ist ein roter Ziegelbau im gotischen Stil mit einer Apsis und einem massiven Turm mit drei Glocken, die auch während des Ersten Weltkrieges abgeliefert werden mußten und nach dem Krieg durch ein Stahlgeläut ersetzt wurden. Die Orgel hatte zehn Manuale. Die Kirche war von alten hohen Bäumen umgeben; innerhalb dieses Hains wurden während des Ersten Weltkrieges einige Soldaten und Zivilpersonen als Kriegsopfer beigesetzt. Gegenüber dem einfachen Pfarrhaus am Schulgarten lag der alte, etwa 300 qm große evangelische Friedhof. Der Kommunalfriedhof, um die Jahrhundertwende angelegt, befand sich außerhalb des Dorfes an der Chaussee nach Willenberg.

Nach 1900 war Pfarrer Dopattka Seelsorger der Gemeinde; seine Nachfolger waren Pfarrer Fischer, Pfarrer Nikutowski, Pfarrer Rehbein, der 1925 nach Puppen versetzt wurde, und Pfarrer Gaydies. Bis etwa 1925 wurde der Gottesdienst in masurischer Sprache gehalten. Diejenigen Geistlichen, die diese Sprache nicht beherrschten, mußten sich bei ihrer Anstellung verpflichten, binnen eines Jahres in der Lage zu sein, masurische Lesegottesdienste zu halten. Während dieser Zeit hielten die Kirchenschullehrer, die die masurische Sprache beherrschen mußten, den Lesegottesdienst ab. Alle 14 Tage fanden Gottesdienste in deutscher Sprache statt. Diese Regelung galt bis 1933. Nach diesem Termin war der Gottesdienst in masurischer Sprache verboten. – Das Kirchenland umfaßte nur zwei Morgen. Kirchendiener waren vor dem Ersten Weltkrieg H. Korgitzki, danach Martin Abt.

Einen besonderen Platz im kirchlich-kulturellen Bereich des Dorfes hatte das Sternensingen in der Adventszeit und die Frühpredigten – Jutrznia genannt. Lehrer und Katechet Rojek aus Flammberg hatte vor 1900 ein Büchlein verfaßt, das den Ablauf dieser Feiern enthielt – weihnachtliche Zwiegespräche, Gedichte, Weihnachtspredigten, die Weihnachtsgeschichte und Gesangstexte in masurischer Sprache – und weit verbreitet war.

Die katholische Volksschule wurde von Lehrer Karowski sen. vor dem Ersten Weltkrieg einklassig geleitet. Erst in den zwanziger Jahren kam eine zweite Klasse hinzu, die sein Sohn Hans Kurowski übernahm, der auch den Posaunenchor gegründet hat und ihn leitete. Ihm folgte Lehrer Neuenberger.

Die zweiklassige evangelische Volksschule ist um die Jahrhundertwende im Rotziegelbau gegenüber der Kirche nebst zwei Lehrerwohnungen sowie Stall und Scheune errichtet worden. An ihr lehrten u. a. die Lehrer Julius Schulz, Eugen Wieczorrek, Tadra, Alfons Lahms, Wilhelm Kloß und als Vertreter während des Ersten Weltkrieges Wilhelm Labusch. Das Schulland umfaßte 17 Morgen, meist Wiesen, an der deutsch-polnischen Grenze gelegen, das von dem jeweiligen Lehrer selbst bestellt oder in Bewirtschaftung gegeben wurde.

Die Kinderfeste fanden auf der Wiese von Gastwirt Link statt. Sie wurden von beiden Konfessionsschulen gemeinsam gefeiert. Auf dieser Wiese unter einer überdachten Tanzfläche feierte man auch die sommerlichen Veranstaltungen der Vereine und Verbände.

Das Ackerland der Gemeinde bestand zur Hälfte aus leichten und zur anderen Hälfte aus mittleren Böden, davon waren vier Fünftel Land und ein Fünftel Wiesen. Die Wiesen am Oscysfluß standen bis 1934 in der Schnittzeit immer unter Wasser, so daß die harten Gräser mit der Sense oberhalb des Wassers gemäht werden mußten. Das Gras wurde dann auf einen aus breiten Brettern hergestellten Schlitten geladen. An dem Schlitten befestigte man vorne ein starkes Seil, das über ein seitwärts laufendes Rad lief, welches auf einem eingeschlagenen Pfahl befestigt war, wenn der beladene Schlitten von Pferden in eine bestimmte Richtung auf höher gelegene Wiesen- oder Ackerflächen gezogen wurde. Abgesehen von dieser mühevollen und zeitraubenden Arbeit erntete man minderwertiges Gras. Die Meliorationsarbeiten von 1934 ergaben einen 5 m breiten und mehrere Kilometer langen Kanal parallel zum Oscysfluß. Obwohl auch die jenseits des Flusses liegenden polnischen Wiesen unter den ungeregelten Wasserverhältnissen litten, lehnte Polen eine Mitarbeit bei der Erstellung des Kanals ab. Die von Landrat v. Poser eingeleiteten Meliorationen verhinderten nicht nur die überschwemmungen der Wiesen, sondern begünstigten auch einen gesunden Graswuchs und zunehmend gute Heuernten.

Industrie und Handwerk waren in Flammberg durch die unmittelbare polnische Grenze und durch das kühle politische Klima mit Polen sehr gehemmt. Um so üppiger blühte der Schmuggel, der durch die von Buschwerk und von Bäumen unübersichtlich gestaltete Landesgrenze noch wesentlich begünstigt wurde. Besonders während und nach dem Ersten Weltkrieg wurden in der Hauptsache Sacharin, Felle, Sprit, Pferde und Schweine geschmuggelt. Dieser illegale Handel lag hauptsächlich in Händen polnischer Juden, die sich dadurch ein Vermögen erworben haben. Die erste Kleinstadt in Polen war Corzelle, zwei Kilometer von Flammberg entfernt. Hier befand sich der Hauptumschlagplatz für Schmuggelware jeder Art. Es fiel den Deutschen nicht schwer, die in ärmlichen Verhältnissen lebenden russisch-polnischen Zollbeamten zu bestechen, die ihnen dann die verschlungenen Pfade für den Grenzübertritt freihielten. Das Grenzzollamt Flammberg gehörte zum Hauptzollamt Neidenburg. Das Gebäude lag an der Grenze und war nur mit einem Leiter und drei Beamten besetzt. Die zu überwachende Grenzlänge betrug etwa acht Kilometer.

Viel Leben brachten die polnischen Saisonarbeiter in das Dorf, die sich in den drei Gasthäusern sammelten und von hieraus von den Bauern und Gutsinspektoren für die Herbst- und Sommerernte angeworben wurden. Zwei bis drei Wochen lang standen täglich durchschnittlich 50 bis 80 Landarbeiter bereit. Da es zu dieser Zeit noch keine behördliche Vermittlung gab, hatten die russisch-polnischen Juden diese Vermittlung in Händen. Wer ihnen die höchsten Vermittlungsgebühren zahlte und den Arbeitern den meisten Kornus ausgab, erhielt die kräftigsten Arbeiter zugewiesen, die gleich von den deutschen Arbeiterinteressenten mitgenommen wurden. Auch das Wechseln des Geldes beim Übertritt nach Deutschland von Kopeken in Mark und beim verlassen Deutschlands nach Polen nach dem Arbeitseinsatz von Mark in Kopeken nahmen wiederum die Juden wahr.

Ein alljährlich vertrautes Bild bot Flammberg im Herbst, wenn Tausende von Gänsen im "Fußmarsch" aus Polen über Flammberg zum Verladebahnhof Willenberg getrieben wurden. Die Straße glich dann einem kilometerlangen weißen Teppich schnatternder Gänse. Um ihre Füße für die lange Reise marschfähig zu erhalten, wurden sie zunächst durch eine Lache flüssigen Teers getrieben und anschließend über eine feine Sandstrecke. – Dadurch erhielten die Gänseschuhe noch eine zusätzliche Sohle. Da das polnische Gänsetreiberkommando verhältnismäßig klein war, hatten sich einige Flammberger Lorbasse als geschickte Gänseschlänger produziert. Sie legten sich an schlecht übersehbaren Stellen mit einer langen Stange, an der eine Drahtschlinge befestigt war, in den Straßengraben. Bei günstiger Gelegenheit hat sich manch einer einen zusätzlichen Gänsebraten aus der Herde herausgeangelt.

Ortelsburger Heimatbote 1990   S. 25-29