Alt Werder   ein Dorf ohne Dorf

Im äußersten Süden des Kreises Ortelsburg, hart an der polnischen Grenze, 13 km südöstlich von Willenberg, liegt die kleine Landgemeinde Alt Werder. Sie verdankt ihre Entstehung dem ersten bedeutenden Meliorationswerk in Masuren, der Urbarmachung des 450 Hufen großen Lettanabruchs. In der Zeit von 1770 bis 1797 wurden hier 6 Dörfer mit fast 700 Einwohnern angelegt: Borken (Borkenheide), Lattana (Groß und Klein Heidenau), Röblau, Schrötersau, Wagenfeldt und das Dorf Werder. 1794/95 erhielten 9 Wirte 67 Morgen, 90 Ruten zu Erbpachtrechten. Sie sind als Gründer von Alt Werder anzusehen.

Seine Feldmark bildet mit den Gemarkungen obiger Gemeinden und einigen Abbauhöfen von Kiparren (Wacholderau) eine eigenartige Landschaft, "Holländerei" genannt. Diese Holländerei hat mit Holland nichts gemein; der Name wird von "Hauland" abgeleitet und besagt, daß dieses Land einst aus "gehauenem", also gerodetem Wald gewonnen wurde. Zur Zeit Friedrichs des Großen war dieses Gebiet noch kaum besiedelt. Es bestand zum großen Teil aus Sumpfland, masurisch "Parowa" genannt, mit ausgedehnten Erlenbeständen und Weidenbäumen; auf den höheren Gebietsteilen breiteten sich auf Sandböden Kiefernwaldungen aus. Auf diesen Höheninseln bauten die ersten Bewohner von Alt Werder ihre Gehöfte auf. So gab es in dieser Holländerei kein geschlossenes Dorf. Bedingt durch die ungünstigen landwirtschaftlichen Verhältnisse, zögerte sich die Besiedlung über viele Jahrzehnte hinaus.

Die Feldmark Alt Werder, durchschnittlich etwa 50 m über NN gelegen, hatte einen hohen Grundwasserstand. Sie bestand zur Hälfte aus sumpfigen Wiesen und Weiden, nur ein Viertel war ackerfähiger leichter Boden, und das letzte Viertel verteilte sich auf Sumpf- und Kiefernwald. Die kampigen, sumpfigen Wiesen und auch die umliegenden Äcker bargen in einer Tiefe von 60 bis 80 cm eine durchgehende, etwa 10 cm starke Schicht von hartem, rostbraunen Eisenstein. Zur Zeit des Deutschen Ritterordens soll in einer Eisenschmelze bei Wilienberg dieser Eisenstein verhüttet worden sein.

Die niedrige Lage, hoher Grundwasserstand, Roheisenstein, dazu eine große Kalkarmut des Bodens brachten nur saures, minderwärtiges Gras hervor. Die Folgen waren kleines, mageres Rindvieh mit wenig Milchertrag und geringem Schlachtgewicht; der sandige Ackerboden brachte karge Ernten an Roggen und Hafer. Nur der Kartoffelanbau verzeichnete befriedigende Ernteerträge.

Diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Holländerei änderten sich, als es unserem hochverehrten Landrat von Poser gelang, im Jahre 1928 eine Genossenschaft zur Entwässerung und Bodenverbesserung in Alt Werder zu gründen, trotz harter Widerstände mancher Einsichtloser, aber auch mit Unterstützung kluger Befürworter.

In den folgenden Jahrzehnten schwerster Arbeit wurden Entwässerungsgräben gezogen; verfilzte Wiesenflächen mußten aufgerissen, dem Boden Kunstdünger und Kalk zugeführt werden. Der so vorbereitete Boden erhielt nun eine neue Grassaat. Bei diesen Arbeiten unterlief dem Kreiswiesenbauamt ein Irrtum, als es beim Ausheben eines Vorflutgrabens in der Nähe von Alt Werder längs der Grenze polnisches Gelände aus Versehen in erwa 1 m Breite anschnitt. Durch die persönliche Vermittlung unseres Landrats mit den polnischen Behörden konnte diese Angelegenheit zugunsten beider Verhandlungspartner bereinigt werden, da auch Polen durch diesen Vorflutgraben wirtschaftliche Vorteile erzielte.

Zu welcher Fülle sich nun die landwirtschaftlichen Erzeugnisse steigerten, ist kaum zu beschreiben. Die vorhandenen Scheunen erwiesen sich als viel zu klein, um den Erntesegen zu fassen. Haferernten bis zum 25. Korn, wie es mancher Bauer stolz behauptete, waren keine Seltenheit. Unter der tatkräftigen Leitung der Bauern Johann Krischick und Bernhard Kursch wurde dieses Werk unseres Landrats zum Segen für die ganze Holländerei.

Wie schon zu Anfang bemerkt, war Alt Werder kein geschlossenes Dorf. An einer gekrümmten schmalen Feldstraße, einer Abzweigung von der Landstraße Willenberg – Groß Leschienen, fast genau in Nord-Süd-Richtung bis zur polnischen Grenze verlaufend, lagen die meisten der 11 Gehöfte in einer Ausdehnung von mehr als 2 km vom ersten bis zum letzten Hof. Alt Werder zählte 1939 80 Einwohner. Die Besitzer der Grundstücke im Jahre 1928 in der Reihenfolge von Norden nach Süden waren: Witwe Adam Klask 180 Morgen, Adam Soldanski 160 Morgen, Witwe Johann Sender 160 Morgen, Johann Sadlowski 160 Morgen, Michael Oleschkowitz 140 Morgen, Witwe Johann Powierski (Schmiede) 12 Morgen, Karl Wrobel (Stellmacher) 20 Morgen, Bernhard Kursch 118 Morgen, Johann Krischick 129 Morgen, Johann Rattay 180 Morgen, Michael Serra 90 Morgen.

Wie die meisten Grenzorte, so galt auch Alt Werder als reichlich abgelegen. Der Weg von 13 km bis Willenberg, davon 7 km loser Sandweg, war sowohl für den Fußgänger, den Radfahrer oder den Bauernwagen mit einigen Anstrengungen verbunden. Willenberg war für die Bewohner von Alt Werder ein vielseitiges Inreressenzentrum: Bahnstation, Einkaufs- und Absatzmarkt, Mahlmühle, Sitz des Arztes und Tierarztes, der Hebamme, Apotheke, des Amtsgerichts, Standesamts, der Kirche usw.

Im Jahre 1927 wude die sandige Landstraße von Groß Leschkienen bis zur Friedrichshofer Chaussee nach Willenberg durch eine lehmhaltige Kiesschicht etwas befestigt. Das war für Alt Werder, wie auch für Wagenfeld, Schrötersau und Groß Leschienen, ein großer wirtschaftlicher Fortschritt. Nun konnten die Pferdefuhrwerke zeitweise sogar traben und die Radfahrer ohne "Schiebung" ihr Ziel erreichen.

Trotz der abgeschiedenen Lage – oder vielleichr gerade deshalb – bot Alt Werder ein landschaftlich freundliches und vielseitiges Bild. Wald und Buschwerk zu beiden Seiten des Feldweges, blühende, stark duftende Faulbaumbüsche im Frühjahr, das vielstimmige Sommerkonzert zahlreicher gefiederter Sänger, insbesondere vieler Sprosser, wirkten sowohl auf Einheimische wie auf Besucher stimmungsvoll ein.

An besonderen Ereignissen aus vergangener Zeit wäre wohl nur der Kriegsbeginn 1914 zu erwähnen. Als die Schlacht von Tannenberg geschlagen, General Samsonow in den Wäldern bei Willenberg durch eigene Hand gefallen war, flüchteten die Russen auch durch Alt Werder zur nahen Grenze. Um sich kurz vor der Grenze ihrer letzten Handgranaten zu entledigen, warfen sie diese in die Häuser der am Fluchtweg liegenden Gehöfte. Dadurch wurden die beiden Bauernhöfe Krischick und Rattay in Brand gesetzt und vollständig eingeäschert.

Nach dem ersten Weltkrieg verwaltete bis 1925 Michaei Oleschkowitz die kleine Gemeinde. Sein Nachfolger bis 1932 war Bernhard Kursch, ihm folgte Karl Wrobel im Amt. Als besondere Eigenart ist zu erwähnen, daß Alt Werder keinen Verein, keine Feuerwehr, keinen Sportplatz, keinen Kaufladen und kein Gasthaus besaß.

Die einzige öffendiche Einrichtung von Alt Werder war die Schule. Sie wurde während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. gegründet. Vor der Jahrhundertwende bestand sie aus einem Raum im Bauernhaus Piewek, dem Vorgänger von Bernhard Kursch. Dort hat zunächst Lehrer Lumma seines Amtes gewaltet. In den Jahren 1903/04 wurde das Schulhaus fast in der Mitte an der langen Dorfstraße, dicht neben dem Bauernhof Michael Oleschkowitz erbaut. Es war ein solider roter Ziegelbau mit einem Schulraum, einer Lehrerwohnung nebst einem Wirtschaftsgebäude.

Von einer mächtigen Doppellinde beschattet, fügte sich das neue Schulhaus harmonisch in das Landschaftsbild ein. Alle Kinder von Alt Werder, der größte Teil von Schrötersau und einige Kinder der Anrainer von Wagenfeld besuchten diese Schule, so daß Alt Werder mit Wagenfeld und Schrötersau einen Gesamtschulverband bildeten. Die Kinderzahl in den Jahren 1923 bis 1928 schwankte zwischen 18 und 23 Schülern.

An dieser Schule wirkte zunächst Lehrer Seek bis zum Ausbruch des Krieges 1914. Sein Nachfolger wurde bis 1923 Wilhelm Jobski, ihm folgte Lehrer Bernhard Raether bis 1928.

Schulamtsbewerber Krupinski unterrichtete 1929 vertretungsweise. Seine Nachfolger waren die Lehrer Ferdinand Hoffmann, Heinrich Heide und Karl Grabe, die aus Westdeutschland an diese Schule versetzt wurden.

Was die Kinder der Schule Alt Werder besonders auszeichnete, war eine gute musikalische Begabung, gepaart mit großer Sangesfreude. Es war eine Lust, mit der kleinen Sängerschar auch schwierige dreistimmige Chöre zu üben. Die alljährlichen Weihnachtsfeiern, als Elternabende gestaltet, mit den klangschön gesungenen Weihnachtsliedern waren Höhepunkte im schulischen Leben.

Wer als Kreisangehöriger den Namen Alt Werder erwähnt, wird dabei unwillkürlich eines Mannes gedenken, der sich um die Belange seines Heimatdorfes und weit über die Grenzen unseres Heimatkreises hinaus große Verdienste erworben hat: Der Bauer Johann Krischick. Es war 1917 im ersten Weltkrieg. Soldat Johann Krischick erreichte nach vielen Bemühungen seine Entlassung aus dem Heeresdienst, um sein von Russen zerstörtes Gehöft wieder aufzubauen. So erlebte er die Novemberrevolution 1918 und die anmaßenden Gepflogenheiten des Arbeiter- und Soldatenrats in unserer Heimat. Es dauerte auch nicht lange, bis dieser treudeutsche Mann dem Willenberger Arbeiter- und Soldatenrat "auffiel". Anfang 1919 wurde er in Alt Werder verhaftet und nach Willenberg gebracht. Hie wurde ihm ein kurzer Prozeß gemacht, der die Todesstrafe für ihn forderte. Zur Erschießung an die Wand gestellt, trat Krischick seinen Widersachern so mannhaft entgegen, daß diese unsicher wurden und sich schließlich niemand zur Exekution bereit fand. Man bezeugte ihm zuletzt seine Unschuld und entließ ihn.

Das Verhalten dieses großen Sohnes seines Heimatdorfes mag auch für die Haltung seiner Bewohner zeugen, die mit unerschütterlicher Standhaftigkeit zu ihrer kargen Heimatscholle hielten und es durch zähen Fleiß und Ausdauer zu bäuerlichem Wohlstand brachten.

Bernhard Raether   Ortelsburger Heimatbote 1990   S. 131-135