Ich wurde 1903 in Altkirchen (Schwentainen) geboren. Da meine zwei älteren Geschwister Jungen waren, imitierte mich meine Mutter bis zu meinem vierten Lebensjahr als Mädchen. Noch heute kann ich mich an meine Mädchenkleidung erinnern, sonntags durfte ich das Kleid mit dem Schottenmuster tragen. Mein sehr lockiges blondes Haar reichte bis über meine Schultern, doch dann kam der Tag, an dem man mich vom imitierten Mädchen zum richtigen Jungen verwandelte. Meine beiden älteren Brüder nahmen mich in die Mitte, faßten mich an den Händen und brachten mich nach Grünwalde zum Schneidermeister Mecklenburg, einem alten, hageren Mann, der nach dem Russeneinfall 1914 mit seiner Frau als verschollen galt. M. nahm Maß und bald war der erste Anzug geschneidert. Nachbar Puzicha war auch bald mit seiner Haarschneidemaschine zur Stelle und die blonden Locken fielen ihr zum Opfer. Diese eindrucksvolle Veränderung bin ich nie mehr losgeworden.
Aber auch andere Begebenheiten aus dieser Zeit haben sich in mein Gedächtnis so stark eingegraben, daß ich manches Ereignis verhältnismäßig deutlich wiedergeben kann. Der alte Friedhof am Dorf Grünwalde mußte wegen Überfüllung geschlossen werden und ein neuer wurde an dem Landweg nach Seenwalde, in der Nähe des Kelch'schen Anwesens, später Osygus, angelegt. Ich war sechs Jahre alt, als die ersten Beerdigungen dort stattfanden und lauschte gern den Chorälen: "Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh" und "Laßt mich gehen!", die die Gemeinde ihren Lieben zum Abschied mit ganzer Inbrunst sang.
Bald wurde der sehr sandige Weg zum neuen Friedhof zu beschwerlich, er wurde aufgegeben und der alte erweitert.
Auch kann ich mich an ein starkes Gewitter erinnern, bei dem der Blitz in das Anwesen Patscha einschlug und das ganze Gebäude einäscherte. Um von dem grausamen Schauspiel viel zu sehen, stellte ich mich mit meinen vier Jahren auf die Fußbank vor dem Fenster.
Es war eine Gepflogenheit, daß, wenn nachts ein Gewitter aufzog, alle sofort geweckt wurden und vom kleinsten bis zum größten angezogen standen und lauschten, wenn die Großmutter das alte preußische Kanzial (Gesangbuch) aufschlug und daraus sehr andächtige Gebete vorlas.
Da das Patscha'sche Gehöft im Zusammenhang mit der Feuersbrunst erwähnt wird, möchte ich aus diesem Anlaß ein Stück Schwentainer Geschichte anschneiden.
Neben den Familien Bieber, Link, Makowka, Pilath, Kompa, Cymek, Maslo, Hallay, Ehlert, Lischewski, Zebrowski gehört auch die Familie Walpuski zu den ältesten Familien von Schwentainen. Nach der Separation wurde das Walpuski'sche Anwesen aus der Dorflage auf das Außenstück der Schwentainer Feldflur umverlegt. Es wurde später von der Familie Makowka erworben, danach an Gottlieb Patscha weiterveräußert. 1914 wurde es an Johann Wolff und etwa 1930 im Erbwege an die Tochter Martha und Schwiegersohn Sussek übergeben. Heute wird das ca. 35 ha große (früher sehr schöne) Anwesen von mehreren polnischen Familien bewohnt und bewirtschaftet.
Schwentainen wurde dank der Eisenbahnlinie Allenstein-Lyck, die 1886 gebaut wurde, ein interessanter wirtschaftlicher Mittelpunkt. Eine sehr segensreiche Aufgabe übernahm der Bahnhof. Seine wirschaftliche Reichweite ging im Süden bis über die damalige deutsch-russisch Gerenze und im Norden bis über Schönhöhe hinaus und war gleichzeitig für den angeführten Raum eine Postumschlagstation.
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges verkehrte zweimal am Tage zwischen Altkirchen und Friedrichsdorf die Postkutsche. Beim Anfahren einer vorgezeichneten Poststation mußte der Postillon sein Anfahrts- und Abfahrtssignal blasen. Einer der Postillone hieß Pokorra. Er verstand, die Signale besonders exakt zu intonieren. Den Personenverkehr konnte die Postkutsche nicht ganz aufnehmen, und so standen an bestimmten, verkehrsreichen Tagen noch einige Droschken am Bahnhof in Bereitschaft. Besonders beliebt unter den Droschkenkutschern war der lahme Heyna, denn er konnte seine Reise-Gäste recht humorvoll unterhalten und war ihm der Humor einmal ausgegangen, unterhielt er sie mit einem Pfeifkonzert oder, da er über eine schöne, helle Stimme verfügte, mit Volksliedergesang. Die Gaststätten Sperber, Radzewski und Nitsch verfügten über sehr schöne Fremdenzimmer, was die Reisenden zu schätzen wußten.
Es war doch für uns eine abwechslungsreiche Zeit! Kaum, daß ein neues Jahr anbrach, setzten sich die Rübenkolonnenanwerber in Marsch und durchkämmten jede abgelegene Ortschaft und suchten Haus für Haus auf, um junge Menschen, die zu Hause entbehrlich waren, für die sogenannten Rüben- und Schnitterkolonnen in die Magdeburger Börde anzuheuern. Der Altkirchener Bahnhof reichte mit seinen Verkehrsausstrahlungen bis weit über die damalige Reichsgrenze. Bei den Polen war der Menschenüberschuß sehr groß und dort fanden die Werber ein ergiebiges Angebot vor.
Zu der Jahreszeit, als die Mittagssonne die von den Strohdächern bis fast zur Erde hängenden Eiszapfen, die aus dem Traufwasser entstanden waren, zum Tauen brachte, begann auch schon der Abwanderer-Strom, buchstäblich mit Sack und Pack, denn die verbesserten und verschönerten Reiseausrüstungen, wie Koffer und Reisetaschen, waren auf dem Lande kaum erhältlich, auch nicht üblich und obendrein, gemessen an dem damaligen Verdienst zu kostspielig.
Wenn der Sommer herum war, mußte der Ertrag, der damals aus Dukaten bestand, zu Hause auf Heller und Pfennig abgeliefert werden. Zur Bank wurde er nicht gebracht, sondern in einen Strumpf gewickelt, den Vater und Mutter sorgfältig unter dem Kopfkissen hüteten. Man kann es sich gut vorstellen, wie Vater und Mutter an geruhsamen Tagen ihren Goldschatz einer gründlichen Inventur unterzogen, auf Talervaluta umrechneten und auch schon Überlegungen anstellten, wieviele Taler Mitgift ihren bald heiratsfähigen Töchtern zugestanden werden konnten.
Aber in Altkirchen hat sich noch mehr abgespielt! Im frühen Herbst kamen über die damalige Reichsgrenze Männer und Frauen mit Kind und Kegel als Kartoffelgräber. Sie brachten ihre Kinder mit (die Kleinkinder wurden in einer Beutelwiege verstaut), denn bei der Kartoffelernte konnte man durch ihre Handfertigkeit den Akkord wesentlich steigern. Zu Hause kannte man keine schulische Probleme, denn dort gab es weder Schule, noch Schulpflicht und schon deshalb wurde der Gesindebedarf auf den Bauernhöfen fast ausschließlich aus Polen angeheuert.
Nun sieht es so aus, als wenn im Winter alles eingefroren war und die Menschen sich im Winterschlaf wiegten. Zu Martini, wenn alles unter Dach und Fach war, wechselte das Gesinde oder es ging nach Hause, d. h. nicht mit dem Pachungel auf dem Ast, sondern es wurde ein ganzer Wagen mit Naturalien beladen. Der Jahreslohn bestand nicht nur aus blanken Talern oder gar Dukaten, sondern aus mehreren Scheffeln Getreide, einem bestimmten Anteil Erbsen, Hirse, Buchweizen, vor allem spielten Kartoffeln eine sehr wichtige Rolle, oft wurde die Sorte vorher vereinbart (nach Möglichkeit die ""Daber'sche"). Ein abgeschlossener Jahresvertrag (Kontrakt) wurde jeweils verschieden ausgehandelt, denn dort, wo hofeigener Wald oder Torfwiesen vorhanden waren, wurde auch die Lieferung von Winterfeuerung vereinbart. Bei weiblichen Arbeitskräften gehörten vielfach mehrere Ellen selbsterzeugter Wäscheleinwand, aber auch Wolle und nicht selten selbsterzeugter Kleider- oder Anzugstoff. Bei gutem Einvernehmen durfte am Ende die Martinsgans nicht fehlen und dort, wo Beutnerei betrieben wurde, versuchte man Unliebsamkeiten oder Differenzen, die im Laufe eines Jahres einmal vorgekommen sein konnten, mit Honig oder gar mit Bärenfang zu begleichen, mit der Absicht, ihn oder sie oder gar beide für das nächste Jahr wieder zu gewinnen. Nicht selten lernten sich Johann und Anna im Laufe eines Jahres so gründlich kennen und verstehen, daß sich daraus eine Liebe entwickelte und sie den Weg zum Traualtar fanden, um sich den Segen für einen gemeinsamen Lebensweg spenden zu lassen.
Aber auf dem Bahnhof in Altkirchen hat sich noch viel, viel mehr abgespielt! Im Oktober eines jeden Jahres mußten die jungen Männer zur Fahne (am Rande bemerkt, nach 1886 brauchten sie nicht mehr den weiten Weg zum Bahnhof Rothfließ zu machen). Sie wurden von ihren Angehörigen zum Bahnhof begleitet. Ihre notwendigen Habseligkeiten trugen sie in einem handgewebten, bunten Kopfkissenbezug (Zich). Nach herzlichen Abschiedsworten mit Ermahnungen zu Gehorsam und ordentlicher Lebensführung, nach kräftigen Umarmungen und Küssen ging die Fahrt bei vielen so gut wie ins Ungewisse. Einige von ihnen konnten schon in Ortelsburg bei den Yorck'schen Jägern bleiben, andere mußten zu den Meldereitern (Jäger zu Pferde) nach Posen oder zu den Pionieren nach Graudenz. Wer von ihnen in Danzig-Langfuhr bei den Schwarzen Husaren ankam, soll angeblich besonderes Glück gehabt haben, wer eine besondere Körperlänge aufzuweisen hatte, der durfte nach Berlin zur Garde. Sämtliche Gardeformationen hatten ihre Standorte in oder im engsten Umkreis von Berlin. Wer eine besondere Eleganz zu seiner Länge aufzuweisen hatte, der durfte sogar im Garde du Corps für Kaiser und Reich dienen. Soweit ich mich auf mein Gedächtnis verlassen kann, waren es aus unserem Heimatkreis nicht viele, die zu den "Lieblingen seiner Majestät" gezogen wurden, außerdem bestand diese auf Hochglanz gehaltene Truppe meistens aus Freiwilligen. Einige von diesen Glücklichen sind mir noch in Erinnerung: Czicholl aus Wilhelmshof, Marchlowitz (Spediteur), Ortelsburg, Nickel, Olschöwken, Heydasch, Scheufelsdorf und Waschetta, Schwirgstein. Vielleicht schnitten diejenigen am schlechtesten ab, die nach Metz, Straßburg, Colmar oder Mühlhausen/Elsaß gezogen wurden, doch bei guter Führung, d. h. auf Kommisdeutsch, wenn er nichts ausgefressen hatte, gab es zu Weihnachten den ersten Urlaub und da war auf dem Bahnhof wieder was los. Von weit und breit kamen Schlittengespanne, die Pferde mit Glocken behangen, um die Urlauber am Zug in Empfang zu nehmen. Es kamen auch Verwandte zu Weihnachten nach Hause, nicht um einen Pflichtbesuch zu machen, sondern weil sich die Familie unter dem Tannenbaum versammeln wollte und Mutter nahm jede erdenkliche Mühe auf sich, um allen im Hause das Fest angenehm und feierlich zu gestalten.
Nun gibt es noch weitere Ereignisse, die sich in mein Gedächtnis stark eingegraben haben, die ich an die Jüngeren gerne weitergebe. Fast jeden Sommer fand im Raum Johannisburg-Ortelsburg eine Brigadeübung mit dem 10. und 11. Dragoner-Regiment, das 10. in Allenstein und das 11. in Lyck, statt. Wir konnten den Tag nicht erwarten, an dem es Einquartierung gab. Die Menschen unserer Heimat waren sehr soldatenfreundlich. Da eine berittene Truppe für ihre Pferde auf Stallungen angewiesen war, kamen für die Quartiergestellung nur Bauernhöfe in Frage und was wurde vorher nicht alles getan, um den Soldaten einen angenehmen Aufenthalt zu bieten! Kuchen wurde gebacken und Hühner geschlachtet, Flaschenbier war damals weniger gängig, es wurde ein Achtel herangeholt. So mancher brave Dragoner überschätzte seine Aufnahmefähgikeit in Bier und Bärenfang und so gab es am nächsten Morgen böse Überraschungen! Kaum waren die Dragoner von ihren schmucken Pferden herunter, kamen wir ihnen zu Hilfe, halfen beim Absatteln, holten Tränkwasser und als die Pferde im Stall standen, suchten die Dragoner nach einer Aufhänge- bzw. Ablegegelegenheit für ihre Ausrüstung, einschließlich Helm und Waffenrock, denn es sollte ja alles in der Nähe der Pferde sein, um am nächsten Morgen zum Fertigmachen alles beisammen zu haben.
Dem Dragoner K. hat das gute Quartier kein Glück gebracht, er hatte das gute Abendbrot reichlich mit Bier und Bärenfang nachgespült, sein schön hergerichtetes Bett hatte er gar nicht belegt, denn er wollte vor dem Schlafengehen noch nach den Pferden sehen, schaffte es noch vor die Stalltür und dort hörte die Welt für ihn auf. Als er am nächsten Morgen zu sich kam und die Stalltür öffnete, mußte er eine recht böse Überraschung wahrnehmen, die Rößlein lebten zwar, aber eines hatte sich das Halfter vom Kopf gestreift, den schmucken Dragonerrock mit einigem Zubehör in den Mist getreten, so daß nur die blanken Knöpfe und einige Hartteile des Waffenrocks wiedergefunden wurden. Die schweißgetränkten Rückenteile, die wohl leicht salzig schmeckten, verursachten dem vierbeinigen Kameraden keine Magenverstimmung. Dragoner K. klemmte seine schäbigen Reste unter den linken Arm, faßte mit der Rechten das Pferd am Zügel und trabte zum Sammelplatz an der Schmiede Nabel. Das Malheur war noch nicht zu Ende, denn der Spieß hatte den Bagagewagen, auf dem sich Ersatzstücke befanden, bereits in Marsch gesetzt und nun mußte der Meldereiter herhalten, um den gedemütigten Dragoner wieder marschfähig zu machen. Sicherlich wird diese feuchtfröhliche Quartiernacht dem braven Dragoner noch so manche Nachwehen hinterlassen haben!
Nun wollen wir nochmals die Erlebnisse auf dem Bahnhof in Erinnerung bringen! Ich erwähnte die Sachsengänger, die Kartoffelgräber, die abreisenden Rekruten, die Weihnachtsurlauber, dann gab es auch die Abwanderer in das Rhein-, Ruhr-, Lippe-, und Emschergebiet. Aber ganz besonders zu erwähnen sind doch vor allem die Auswanderer. Es gab auch solche, die bei Nacht und Nebel verschwanden, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten waren, Majestätsbeleidigung spielte hier und da auch mit, diese wanderten ja auch nicht aus, sondern setzten sich in die Fremdenlegion ab. Bei vielen war die Ursache der Verdrückung Unterhaltsverpflichtung (Alimente), in anderen Fällen waren ungeregelte Wirtschaftsverhältnisse Anlaß zur Auswanderung, doch in der Regel ersehnte man in einem anderen Land oder gar Erdteil bessere Lebensbedingungen. Die letzte Personengruppe versuchte von ihren Habseligkeiten so viel wie die Umstände nur zuließen, mitzunehmen.
Nach dem Ersten Weltkrieg sind aus dem Altkirchener Raum mehrere, meistens jüngere Menschen nach Argentinien ausgewandert. An einige von ihnen kann ich mich recht deutlich erinnern, so z. B. Kilisch, Gebrüder Worff, Puzicha, Danielzik, Thiel und Sontowski. Wie ich vor kurzem erfahren konnte, sollen sie alle nicht mehr am Leben sein, getreu dem Auswandererschicksal: Der erste hat den Tod, der zweite die Not und erst der dritte das Brot!
Zu ihrer Verabschiedung haben sich auf dem Bahnhof Eltern und Geschwister, Verwandte und Freunde eingefunden. Die Reise in eine andere Welt hat selbst die härtesten Naturen weich gemacht. Es wurden Gebete gesprochen, fromme Lieder zum Abschied gesungen und kaum, daß sich der Zug in Bewegung setzte, sang man hüben wie drüben: "In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiederseh'n", aber bereits in diesem Augenblick trennte man sich für immer. Die Entfernungen waren zu jener Zeit nur auf dem Wasserwege zu bezwingen, die Reisen waren teuer und dauerten mehrere Wochen.
Eine besonders interessante Epoche war die Zeit 1912/13 während des großen russischen Truppenaufmarsches an der deutsch-russischen Grenze. Obwohl das Zarenrußland einen mächtigen Garnisons- und Festungsgürtel nach Inbesitznahme der polnischen Gebiete, derer es sich trotz des Wiener Kongresses bemächtigt hatte, angelegt hatte, wurde die Invasionsarmee mit der Stoßrichung Westen um ein Mehrfaches verstärkt, obwohl Rußland wenige Jahre zuvor im Fernen Osten (Port Arthur) vom Japaner vernichtend geschlagen wurde. Diese Zeit war für uns Kinder in sofern interessant, als täglich Deserteure aus der russischen Armee über die Grenze kamen und sich beim deutschen Grenzjägerkommando (Angehörige des Zolls) in Friedrichshof meldeten, von wo sie im Fußmarsch zum Bahnhof Altkirchen gebracht und mit dem Mittagszug nach Ortelsburg zur Registrierung befördert wurden. Wenn die Schule aus war, liefen wir (Bublitz, Worff, Kurtz, Kopka's Kinder) schnell zum Bahnhof, um zu sehen, wieviele Deserteure wieder weggebracht wurden. Der Winter 1912/13 war sehr hart und schneereich, die Deserteure trugen eine gute Winterkleidung, besondes gut war ihr Schuhwerk, jedenfalls wesentlich besser als das des deutschen Musketiers. Der Mantel hatte sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen überhaupt nicht verändert, die Kopfbedeckung war anders geworden. Sie bestand aus einer Tellermütze mit einem recht kurzen Schirm und war mit einer großen, ovalen Kokarde und die wiederum mit dem russischen Doppeladler veredelt. Nun muß auch der Grund erwähnt werden, der die russischen Soldaten zur Flucht veranlaßt hat. Zum ersten dauerte dort die Dienstpflicht mehrere Jahre, jedenfalls wesentlich länger als bei den Preußen, die Behandlung und Verpflegung war, verglichen mit der in der deutschen Armee, sehr schlecht. Von jenseits über die Grenze gesehen, war es ein Blick in eine andere Welt, so hat es auch Marschall Pilsudzki, ein Kind einer polnischen Agrarierfamilie, aus der Gegend von Wilna, gesehen. In seinen Erinnerungen beschreibt er seine Eindrücke von den Einkaufsfahrten, die er mit seinen Eltern und Bekannten jedes Jahr zur Adventszeit über die Grenze, in eine andere Welt unternommen hat.
Den Landwirten bot sich Gelegenheit, sich mit guten Arbeitern einzudecken. Es ist bekannt, daß einige von ihnen mit den deutschen Familien, bei denen sie treu dienten im Zuge der Vertreibung nach dem Westen kamen. Einer von ihnen hat sich auf dem Fluchtweg den Namen Franz Segatz zugelegt und ruht jetzt auf dem Friedhof in Schloß Neuhaus bei Paderborn.
Bevor wir uns von dem "Bahnhof" mit den vielen historischen Begebenheiten verabschieden, möchte ich noch den Sommer 1916 erwähnen, als Kaiser Wilhelm die Schlachtfelder Ostpreußens bereiste. Da Altkirchen zu den vom Kriege am schwersten betroffenen Ortschaften zählte, ließ der Kaiser es sich nicht nehmen, dem Ort einen Besuch abzustatten. Besondere Vorbereitungen wurden nicht getroffen, doch der Kriegerverein, dekoriert mit Orden und Ehrenzeichen, bezeigte stramme Haltung vor "Seiner Majestät". Vom Landrat und einigen weiteren hohen Herren wurde der Kaiser mit einem verhältnismäßig kleinem Gefolge begrüßt. Er trug eine schlichte Felduniform mit Generalsrangabzeichen, begab sich sofort zu den Veteranen, begrüßte jeden mit Handschlag, was ich für außergewöhnlich hielt, denn ich wußte, daß seine Widersacher ihn als stolz und arrogant bezeichneten. Ich habe sie alle noch in Erinnerung, wie sie vor dem Kaiser standen, als rechter Flügelmann stand der alte Bork, dann Jeworutzki, Biendarra, Bloch, Bublitz und Skrodzki, der bei der Erstürmung der Festung Metz 1870/71 einen Schulterdurchschuß erlitten hatte.
Danach bestieg der Kaiser einen der vielen Kutschwagen und der Konvoi machte eine Rundfahrt durch das zerstörte Dorf. An einigen Stellen wurde gehalten und unser verehrter Landrat von Poser nutzte jede Gelegenheit, um den Kaiser die Leiden der durch den Krieg betroffenen Menschen recht deutlich nahezubringen. An kräftigen Hurrarufen mangelte es nicht, hinterher waren wir alle heiser!
Auf der Hauptstraße, als er an den zerstörten Schulen vorbei war, ließ der Kaiser an einer von Krieg und Brand verschonten, alten, baufälligen Kate halten, fragte den Gemeindevorsteher nach dem Schicksal der dortigen Einwohner, erfuhr, daß eine alte Frau seit langem bettlägerig sei, stieg sofort aus und stattete der Frau Wnendt (Beiname Priester) einen Besuch ab. Nach einem kurzen Gespräch mit der kranken Frau wünschte er ihr gute Besserung und überließ einen Krönungstaler, danach setzte sich der Konvoi in Richtung Bahnhof in Bewegung.
Auch die russischen Kriegsgefangenen, die sich zufällig in der Nähe befanden, durften den deutschen Monarchen bewundern. Einer von ihnen mähte auf dem Gorfinkel'schen Feld Seradella, der Gendarm Nikolay ritt zu ihm und gab ihm auf, die Sense auf den Boden zu legen, sich davon ein Stück zu entfernen, um den deutschen Kaiser, ohne ihn zu gefährden, betrachten zu können. Wir Kinder liefen neben dem Konvoi her und erreichten außer Atem den Bahnhof, wo der Kaiser nach kurzer Verabschiedung den Zug bestieg, Bahnvorsteher Krämer gab dem Zugführer das Zeichen zur Abfahrt. Der Bahnhof wurde nach seiner Inbetriebnahme durch den Bahnvorsteher Schwoch verwaltet. Nach seiner Pensionierung übernahm Sch. die Geschäftsführung der neugegründeten Raiffeisenkasse, sein Nachfolger war Wabnick, der nach Ausbruch des Krieges von Krämer abgelöst wurde. Schließlich soll auch Matern erwähnt werden, der viele Jahre im Dienst der Kaiserlichen Reichsbahn auf dem Bahnhof Altkirchen verbrachte.
Die Kaiserliche Reichspost soll nicht zu kurz kommen! Die einzelnen Bediensteten aufzuzählen, würde heute zu weit führen. Sie befand sich vor dem Ersten Weltkrieg, mit dem blauen Briefkasten versehen, im Kullessa'schen Eckhaus. Der damalige Postvorsteher hieß Volkmann und war gleichzeitig ein passionierter Kynologe und züchtete Bernhardiner. Einige Jahre vor dem Kriege wurde die Post in den Neubau, in der Nähe des Bahnhofs, verlegt. Das ehemalige Postgebäude (Besitzer Samuel Kullessa) wurde von dem Wunderarzt (Heilpraktiker) Udo Notdurft, angemietet. N. betrieb dort eine gutgehende Praxis als Naturheilkundiger. Da das Gebäude recht groß war, wurden oft Heilungssuchende für längere Zeit im Hause aufgenommen. Eines Tages bemerkten wir auf dem Hof des Udo Notdurft ein seltsames Pferd und erfuhren, daß es sich um einen Tarpan (Wildpferdrasse, die in Rußland lebt) handelte. Das Pferd war ein Geschenk einer russischen Fürstin, ihr Name soll Eugenski gewesen sein, als Anerkennung für einen großen Heilerfolg.
Ich könnte über die Heimatgemeinde Altkirchen mit der ausgedehnten Umgebung mehrere hundert Seiten schreiben, doch ich würde dabei das Risiko eingehen, langweilig zu werden. Lassen Sie mich bitte noch kurz auf das Lehrerkollegium eingehen! Vor meiner Zeit wurden von meinem Vater Namen genannt, die vielen von uns nicht geläufig sind. Wenn ich mit Reichwald beginne, dann deshalb, weil es im Kreise Ortelsburg recht viele davon gab. Sie hatten fast alle den Theophil Reichwald, der um 1870 aus Drenfurt nach Altkirchen kam, als Ahn. An der Schule in Altkirchen unterrichteten wiederholt Reichwalds, ich selbst bin im Abstand von einigen Jahren Schüler von zwei verschiedenen Reichwalds gewesen, von denen der ältere mit unterrichtete viele Jahre an der alten Schule. Passauer war in den Jahren Vornamen Karl hieß. Ein Vorfahre der Heyna's hieß allerdings Heyn und zwischen 1875 bis 1885 der spätere langjährige Rektor. Glaser war schon als Junglehrer ebenfalls um 1880 einige Jahre an der Schule in Altkirchen tätig, wurde in die Gegend von Malga, Kr. Neidenburg, versetzt und kam später, zum Rektor ernannt, wieder. Dann tauchen Namen auf, die auch den jüngeren teils ein Begriff sind: Kühnast, Ruth, Fiedrich, Barth, Glaser, Daus, Teschmer, Hertz, Saalfeld, Olschewski, ein besonders begabter Pädagoge, er stammte aus Kl. Jerutten.
Neben der sechsklassigen Schule wurde in Altkirchen eine Privatschule unterhalten, wer dort unterrichtete, ist mir heute nicht mehr bekannt. Am Ende meiner Schilderungen sollen nicht die Gendarmen fehlen! Vom Hörensagen ist ein Gendarm Westphal bekannt, seine Nachfahren betrieben in Bischofsburg eine gut florierende Maschinenfabrik. Dann wurde der Name Schiekowski in Erinnerung behalten. Nach seiner Pensionierung bewirtschaftete er ein bäuerliches Anwesen in Leinau, war Amtsvorsteher, Feuerkommissar und auch noch ein guter Warmblutpferdezüchter. Wer kannte nicht den schmucken Gendarm Berger? Es war ein imposantes Bild, ihn auf seinem Roß (Rappe mit breiter Blesse und einem weißen Auge, der Hippologe bezeichnet es mit Glasauge) durch die heimatliche Landschaft reiten zu sehen. Einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg kam, als Nachfolger für den nach Rummau versetzten Berger, Schneider, der sich durch überstrenge Herrschaft viele Widersacher erwarb und vorzeitig pensioniert wurde. Der letzte königliche Gendarm war Nikolay, der viele Jahre das Amt zur besten Zufriedenheit für Kaiser und König und nach 1918 für den preußischen Staat und seine Verfassung versehen hat.
Liebe Leser dieser Zeilen! Mit diesen kurzen Aufzeichnungen unserer Vergangenheit wollte ich der jüngeren Generation ein Stück Heimatgeschichte hinterlassen, meine Zeitgefährten aber bitten, sich ebenfalls auf mitgelebte, aber auch mitgestaltete Zeiten zu besinnen und Beiträge für unseren Heimatboten zu verfassen.
Über Altkirchen (Kirchspiel) läßt sich noch viel mehr schreiben, über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Zerstörung, Wiederaufbau zwischen den beiden Weltkriegen, über das Dritte Reich, Zusammenbruch, Flucht, 1914 Scharlachepidemie, Zeppeline über unsere Heimat, 1912 Landung eines Luftballons.
Sie werden merken, daß ich mit meinen Schilderungen nur bis in den Anfang des Ersten Weltkrieges reiche, mit Ausnahme des Kaiserbesuches. Den Anschluß an meine Schilderungen überlasse ich den jüngeren Landsleuten.
Gustav Heybowitz Ortelsburger Heimatbote 1978 S. 17-27
Der Kreis Ortelsburg zählte vor der Vertreibung 73442 Einwohner (ohne Militär). Damit war er nicht nur flächenmäßig, sondern auch seelenmäßig einer der größten Kreise Preußens.
Während 19265 Menschen die 3 Städte bevölkerten, gab es 6 Landgemeinden in unserem Heimatkreis, die zwischen 1000 und 2000 Einwohnern zählten.
Die größten unter ihnen waren Friedrichshof mit 1802 Seelen, Altkirchen (Schwentainen) 1666, Puppen 1515, Mensguth 1394, Lindenort (Lipowitz) 1230 und Gr. Schiemanen, gegründet 1682, 1133. Die Existenz der Gemeinde Mensguth, als älteste der Großgemeinden unserer Heimat, 1383 gegründet, wird 1983 600 Jahre alt. Wir erwarten von den Mensguthern, daß sie aus diesem Anlaß einen Geschichtsbeitrag über die Vergangenheit ihrer Heimatgemeinde erarbeiten.
Nun soll über die Gemeinde Altkirchen, meinem Geburtsort, etwas ausführlich berichtet werden.
Anlaß ist ein altes Foto, das um die Jahrhundertwende entstand und das alte Gasthaus mit Theatersaal, Gasteinfahrt mit Ausspann und Fremdenzimmer zeigt.
Dieses Foto wurde von den Angehörigen der Familie Frassa, durch alle Tücken der vergangenen Zeiten aufgehoben, behütet und auf der Flucht in den Westen gerettet.
Es ist uns jetzt zur Veröffentlichung anvertraut. Dieses Haus gehörte Generationen hindurch der Familie Sperber. Letzter Eigentümer in der Generationenfolge war Alfred Sperber Fleischbeschauer, verheiratet mit einer Uwis, Tochter des damaligen Rektor aus Puppen. Viele Jahre hindurch hat er das Amt ausgeübt.
Sein älterer Bruder, etwa 1865 geboren, studierte Jura, gab das Studium auf und begründete in Ortelsburg das erste Fotoatelier, das für jene Zeit etwas Außergewöhnliches bedeutete.
Sämtliche Fotos aus jener Zeit die von Landsleuten gerettet wurden und als heimatliches Kleinod von Enkeln und Urenkeln bewundert, geschätzt und behütet werden, stammen aus dem Atelier des Fotokünstler Sperber Ortelsburg.
Nun wird es verständlich, warum sein Vaterhaus im damaligen Schwentainen ein für den Künstler willkommenes Fotoobjekt war.
Auch die Entstehung der ebenfalls sehr alten Aufnahme des Gutshauses Bieberthal läßt sich dadurch deutlich erklären.
Sperber war mit den Söhnen des damaligen Gutsbesitzers und Amtsvorstehers Schmidt befreundet, er besuchte mit ihnen zusammen das Gymnasium in Rastenburg.
Der alte Kutscher Ludwig Olschewski berichtete über seine Erlebnisse die er zum Schulbeginn, oder Ferien, auf den Fahrten nach Rastenburg gesammelt hat.
2 Söhne der Familie Talwitzer Gut Posary (Wilhelmsthal) und 2 Söhne der Familie Sperber, wurden schon am Abend vor der Reise in Bieberthal abgeladen. Früh um 4.00 Uhr wurde losgefahren, auf dem Gut Sehesten bei der Familie Klugkisl wurde übernachtet.
Am 2. Tag ging es bis Rastenburg, die Pferde versorgt und sofort die Rückreise angetreten. Am späten Abend kehrte der Kutscher in Wilkendorf bei dem Gutsbesitzer Borris ein und am 3. Tag war die Etappe beendet.
Diese kleinen Weltreisen wiederholten sich einige Male im Jahr.
Die Gaststätte Sperber mit Theatersaal war vor dem Ersten Weltkrieg ein beliebter Treffpunkt für die gehobenen Stände.
Nach dem Ausbau der Eisenbahnlinie Allenstein Lyck wurde Altkirchen durch Zuzug von Beamten auch ein beliebter Wohnort für Pensionäre.
Etwa 1908 wurde Altkirchen zum Kirchspiel erhoben. Die erste Stelle wurde mit dem Pfarrer Wladislaus v. Przybilski besetzt. V. P. war konvertit und stamme aus Galizien.
Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Altkirchen ein Marktflecken. Wochenmärkte existierten noch weit vor der Erhebung zum Marktflecken.
Ein Händler kam regelmäßig aus Berlin angereist und kaufte Butter, Eier und Geflügel auf. Es gab Verkaufsstände mit Sämereien und im Herbst Obststände, die sich ausschließlich in den Händen der Kosaken (Philipponen) befanden.
Das Obst wurde nach Maß (Matz genannt) verkauft. Hauptbestandteil des Wochenmarktes war der Ferkelauftrieb.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Russeneinfall im August 1914, hat unserer Heimat schwersten Schaden zugefügt. Altkirchen wurde am 23. August von den eingefallenen Russen fast völlig zerstört und somit ist auch das alte ehrwürdige Gasthaus Sperber der Kriegsfurie zum Opfer gefallen.
Es wurde noch im Krieg durch Alfred Sperber, dem letzten Besitzer wieder errichtet, in der Inflationszeit an den Kaufmann Cznottka verkauft, durch einen Rechtsstreit wurde der Verkauf annulliert, anschließend an einen Kaufmann Jordan, dann an Fritz Bloch verpachtet. Er war mit einer geborenen Friedrich aus Wilhelmshof verheiratet, sie war eine beliebte Wirtin.
Zum Schluß wurde das ganze Sperberische Anwesen mit Hilfe des Kreises von der Gemeinde Altkirchen erworben.
Altkirchen (damals Schwentainen) war eine stark aufstrebende Gemeinde, die bei dem damaligen Landrat v. Rönne einen guten Namen hatte. Auch seinem Nachfolger v. Poser war sie ans Herz gewachsen, er betrachtete sie als Mustergemeinde und deshalb erhielt sie von ihm beachtliche Förderungsmittel, die mit den erlittenen Kriegsschäden noch im Zusammenhang gesehen wurde.
Altkirchen wird auch jetzt von den Polen als Mittelpunkt und Mustergemeinde betrachtet, darum vom polnischen Staat außergewöhnlich gefördert. Eine westdeutsche Illustrierte hat vor einigen Jahren aus Anlaß einer großen Jugendveranstaltung über unseren Heimatort Altkirchen ausführlich berichtet.
Dieses Dorf ist und bleibt für immer mein Geburtsort in unserer unvergessenen Heimat.
G. Heybowitz Ortelsburger Heimatbote 1982 S. 85-88
Im Ostpreußenblatt vom 15. März 1986, Folge 11, wurde auf die Gründung der Heimatgemeinde Schwentainen (Altkirchen) am 15. Mai 1986 hingewiesen und dabei vermerkt, daß wir im Heimatboten der Kreisgemeinschaft Ortelsburg, Ausgabe 1986, über die 300 jährige Jubiläumsgemeinde noch ausführlicher berichten werden.
Der Gründungsname war Schwentainen, den man 1938 in Altkirchen umbenannt hat. Die Gründung des Großdorfes Schwentainen fällt in die erste Besiedlungsepoche der Pruzzisch-Galindischen Wildnis, die im Zeitraum zwischen 1645 und 1700 durchgeführt wurde. Vor bzw. am Anfang der Kolonisationsmaßnahme im Raum zwischen Ortelsburg und Friedrichshof wurde das Amt Friedrichsfelde, das auf dem halben Weg zwischen O. und F. lag, eingerichtet, von wo aus die Ortsgründungen geleitet und betreut wurden. Nach der Kreiseinteilung 1817 wurden die alten und auch bewährten Ämterverwaltungen liquidiert und die Selbstverwaltung der Gemeinden eingeführt. Friedrichsfelde hat alle Einrichtungen, bis auf die Post, die nach der Einrichtung der Bahnstrecke an Schwentainen (Altkirchen) abgegeben werden mußten, verloren. Zu unserem Bedauern wurde über Friedrichsfelde kaum etwas niedergeschrieben. Umso ausführlicher wird über Schwentainen im Buch "Der Kreis Ortelsburg" von Dr. Meyhöfer und Landrat von Poser berichtet. In der Ausgabe "Die Landgemeinden des Kreises Ortelsburg" von Dr. Meyhöfer findet man auf Seite 25, 26 und 27 eine Kurzfassung der Geschichte Schwentainen. Im Heimatboten des Jahrgangs 1978 befindet sich ein 10 Seiten langer Bericht unter der Überschrift: "Soweit mein Gedächtnis reicht" von Gustav Heybowitz. G. H. berichtet aus eigener Kenntnis über das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Großgemeinde Schwentainen, wobei besondere Ereignisse in Erinnerung gebracht werden.
Schwentainen wurde nicht nach dem Ebenbild der Nachbargemeinden als Reihendorf angelegt. Es wurde mit 2 Straßenzügen und 7 Gemeinde-Verbindungswegen ausgestattet. Auf dem Bahnhofsende vor dem Teich befand sich der Markt, auf dem auch der Dorfrummel seinen Standort bezog. Am entgegengesetzten Ende, in Richtung Seenwalde (Piassutten) und Kl. Jerutten befand sich ein großer Dorfanger, auf dem der Schultrackt seine Bleibe hatte und in Ermangelung einer Kirche hingen an einem Glockengerüst 3 Glocken, die die Gläubigen zum Gebet riefen. Der Gottesdienst fand von 1908 bis zur Errichtung der Kirche, 1924, in der Aula der neuen Schule statt. Bis 1908 gehörte Schwentainen zum Kirchspiel Kl. Jerutten. Kurz vor 1900 wurden Teile des Dorfes durch eine Feuersbrunst zerstört. 1905 und kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, 1914, wurde Schwentainen von einer Scharlachepidemie heimgesucht.
Über die Kriegsereignisse (Russeneinfall) und Zerstörung berichtet der damalige Bürgermeister Friedrich Papprotta in einer kleinen Broschüre recht ausführlich. Leider ist sie nicht lieferbar.
Nach einer Blütezeit ist mit dem Inferno des Krieges im Januar 1945 die seit vielen Generationen auf 1666 Einwohner angewachsene Gemeinde untergegangen, doch geblieben ist uns der Glaube an das Recht auf unsere Heimat in Altkirchen, Kreis Ortelsburg, Ostpreußen.
Heute heißt der Ort weder Altkirchen noch Schwentainen, sondern Swentajno, doch die Steine sind Zeugen unserer Sprache.
G. Heybowitz Ortelsburger Heimatbote 1986 S. 66-67
In der Heimatstube der Kreisgemeinschaft Ortelsburg in Herne befinden sich einige Orts-Chroniken.
Bei Fragen hierzu wenden Sie sich bitte per eMail an das Archiv der Kreisgemeinschaft Ortelsburg.
Jeder einzige Reisende, der mit dem Zuge von Allenstein über Ortelsburg fährt und sich der Bahnstation Schwentainen nähert, ein Ausblick aus dem Zuge tut, so erblickt er überraschend eine weitumfaßende Ruine und grausam verwüßtete Trümmerstätten. Aus denen hier und dort nur ein einsam stehen gebliebenes Haus herausragt. Inzwischen stehen auch viel schwarz bebrandete Bäume, deren Rinde wie schwarze Fahnen flattern. Diese beweisen eine grausame Zeit, die sie überstanden haben und schauen in ihrem Trauer auf die vielen in Asche unverkohlten Kadaver, von verschiedenem Vieh und Geflügel. Andererseids: als Zeugnis der Treue zum Kaiser und Vaterland, in den weiß enkleideten Stämmen und schwarz flatternden Rindefahnen. Ja auch mancher stolz hineingerittene Reiter fragt: Wie heißt doch dieser Ort? Ist es eine Stadt gewesen? Oder ist ein so großes Dorf gewesen? Oft mit trähnenden Augen und tief ergriffenen Herzens fragt er mitleident an: Wer hat das getan?
Diese drei Hauptfragen sollen in den nächsten drei Punkten beantwortet werden:
1. Über die Entwikelung.
2. " " Zertrümerung.
3. " " Hoffnung des Wiederaufbauens.
Königl. Landrat des Kreises Ortelsburg von Poser Ortelsburg, 6. Sept. 1915
In der Heimatstube der Kreisgemeinschaft Ortelsburg in Herne befinden sich einige Orts-Chroniken.
Bei Fragen hierzu wenden Sie sich bitte per eMail an das Archiv der Kreisgemeinschaft Ortelsburg.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Mehr als 50 Jahre sind seit Flucht, Vertreibung und dem Ende des zweiten Weltkrieges vergangen. Es ist höchste Zeit, die Liebe zur Heimat nicht nur im Herzen zu tragen, sondern sie an die jüngere Generation durch schriftliches Bezeugen weiterzugeben, Erinnerungen und Erlebnisse älterer Dorfbewohner festzuhalten, um so in einer Chronik des Dorfes Schwentainen - Altkirchen im Kreis Ortelsburg / Ostpreußen zu berichten.
Wir können mit Stolz auf die Opfer und Leistungen unserer Vorfahren zurückblicken und wir haben die Verpflichtung, diese Opfer und Leistungen nicht der Dunkelheit der Geschichte und dem Vergessen preiszugeben.
An dieser Stelle möchte ich Herrn Gustav Heybowitz im Namen aller noch lebenden Altkirchener für seine langjährige Betreuung seiner Landsleute meinen herzlichen Dank aussprechen, der jetzt noch mit 92 Jahren so viele Erinnerungen und so viel Wissen an und über die Heimat uns vermittelt hat. In über 40 Jahren seiner Tätigkeit und seines Strebens für die Kreisgemeinschaft hat er keinen Termin und kein Treffen weder versäumt noch verschlafen.
In allen Ehren, ihm allein gebührt unser Dank!
Charlotte Domsalla Gelsenkirchen, im September 1996